Neustart Deutschland: Wir alle hätten etwas davon, wenn die Politik sich endlich um die Menschen auf dem Land kümmern würde
Immer mehr Menschen ziehen in die Städte, trotz Wohnungmangel und horrender Mieten. Kann man es ihnen verdenken? Nein. Denn das Landleben ist unattraktiv geworden – dank politischer Ignoranz.
Ein ganzes Haus. All dieser Platz! So viel Platz! Und ein Garten, in dem man Wildblumen, Gemüse, Fliederbüsche und Kräuter pflanzen kann. Oder eine Terrasse zum gemeinsamen Grillen einrichten kann, oder einfach beides! Und die Ruhe. Und dieser Sternenhimmel nachts, den man in der Stadt einfach nicht hat. Die Natur überall ringsum, und die netten Nachbarn. Der wenige Vekehr, der das Leben für Kinder, für uns und auch Haustiere ein bisschen weniger gefährlich macht. All das sind sehr gute Argumente für das Leben auf dem Land. Warum zieht es dann trotzdem immer mehr Menschen in die Städte? So viele, dass Wohnungen dort Mangelware werden und die Preise explodieren?
Die Gründe sind vielfältig und komplex. Aber, wenn man sie denn grob zusammenfassen möchte: Sie haben damit zu tun, dass die Politik die Entwicklungen der letzten drei Jahrzehnte sehr bewusst ignoriert hat. Wo den Menschen in den Städten der Alltag stets komfortabler gemacht wird, fallen für die Menschen in den Dörfern nach und nach immer mehr Dinge weg – erst die Annehmlichkeiten, inzwischen überall auch die Notwendigkeiten. Ein Supermarkt in Laufweite? Für viele Landbewohner eine Traumvorstellung. Ein Arzt in der näheren Umgebung? Eine Bank? Eine Post? Das ist fast nirgends mehr gegeben.
Auf dem Land bist du immer abhängig
Wer langfristig auf dem Land leben möchte, tut dies im Bewusstsein, immer abhängig zu sein – entweder vom Auto, oder von jemand anderem, falls man eines Tages nicht mehr fit genug ist, dieses Auto zu fahren. Wo immer mehr Städter ganz bewusst, und oft mit einigem Stolz, auf den eigenen Pkw verzichten, weil sie ihn vor lauter Mobilitätsangeboten – neben dem gut ausgebauten ÖPNV-Netz etwa E-Roller, Moia oder Carsharing – ohnehin nicht brauchen, kann man da auf dem Land nur irritiert schnaufen. Ein Leben ohne Auto, das geht hier nicht, selbst wenn man es wollen würde. Allerhöchstens, wenn man jung, gesund und wirklich sehr entschlossen ist.
Und wer möchte sich schon langfristig abhängig machen, in einer Gesellschaft, in der Individualität, Freiheit und Selbstständigkeit wohl als die höchsten Güter gelten? Vor allem, nachdem man in den letzten 30 Jahren mitansehen konnte, wie egal den politischen Entscheidern Lebensqualität und Infrastruktur auf dem Land sind. Dass das besser werden wird in Zukunft, dafür gibt es keine Anzeichen. Wer also jetzt freiwillig aufs Land zieht – der muss sich gefallen lassen, dass man die Klugheit dieser Entscheidung in Frage stellt.
Weniger Nachfrage in den Städten – niedrigere Mieten
Dabei würde die Erhöhung der Attraktivität des Landlebens auch die Lebensqualität in den Städten verbessern. Wenn das Leben und Arbeiten auf dem Dorf, was dank inzwischen häufig akzeptiertem Homeoffice bei gut ausgebautem Internet (ein weiteres, leidiges Thema für viele Menschen auf dem Land ...) nicht mehr unbedingt mit weiten Anfahrtswegen verbunden sein müsste, nicht drastisch unkomfortabler wäre als in den Städten, hätten sicher weniger Menschen das Bedürfnis, sich dort Wohnungen zu suchen. Der Immobilienmarkt würde sich entspannen, die Preise würden sinken. Eine Win-Win-Situation – für alle.
Doch um diesen Punkt zu erreichen, bräuchte es in der Politik zwei Dinge: Einen mutigen Zukunftsplan für ländliche Regionen, und den Willen, ordentlich Geld in die Hand zu nehmen. Denn nichts wird besser werden ohne Investitionen. Große Investitionen. Und größeres Denken. Bisher gab man sich zufrieden damit, wenn die Menschen in den Dörfern eine Basisversorgung mit dem Nötigsten hatten – eine dürftige Busverbindung, Schulen, Ärzte und Einkaufsmöglichkeiten zumindest in irgendeinem Dorf in der Nähe. Man baut darauf, dass eben alle Auto fahren. Man baut darauf, das alle sich gegenseitig helfen. Man baut darauf, dass ohnehin nur noch diejenigen da sind, die aus irgendwelchen Gründen nicht wegkönnen oder -wollen und sich deshalb mit diesem lausigen Angebot, für das den Verantwortlichen in jeder mittelgroßen Stadt alles um die Ohren fliegen würde, abgeben.
Dorfbewohner wollen keine Bittsteller sein
Ja, vermutlich fehlen denjenigen Politikern, die hier etwas tun wollen, schlicht die finanziellen Mittel. Aber genau das ist doch das Problem. Man lockt absolut niemanden aufs Land, indem man ihm sagt: "Hier hast du zwar ein günstiges Haus – aber mit zickigem ISDN-Anschluss, zum nächsten Supermarkt sind es 20 Kilometer, der Krankenwagen wäre immerhin in 45 Minuten da, der Kindergarten ist drei Dörfer weiter, die Post kommt hier montags nicht, der Bus fährt zweimal am Tag, und der einzige Pizza-Lieferdienst der Gegend, der auch Gyros und Sushi verkauft, braucht so lange hierher, dass alles, aber auch alles, kalt und labbrig ankommt. Viel Spaß damit." Wollt ihr die Leute aufs Land locken – ernsthaft? Dann muss euch doch bewusst sein, dass das so niemals funktionieren wird.
Man hat den Eindruck, dass die politischen Entscheider in den vergangenen Jahrzehnten nicht einen jungen Menschen, der vom Land weggezogen ist, gefragt haben, warum. Oder, noch besser, nach ein paar Jahren mal nachgefragt haben, weshalb derjenige sich nicht vorstellen kann, zurückzukehren. Was sind die Vorteile des Stadtlebens, die Menschen in den Städten halten? Und welche könnte man mit etwas Mühe, Geld und Willen aufs Landleben übertragen? Stattdessen scheinen alle einfach zu akzeptieren, dass die Städte die Zukunft sind, die Dörfer ein abgehängtes Auslaufmodell. Aber wohin soll das führen?
Technische Innovationen fürs Land
Gerade junge Menschen wandern ab
Der massive Zuzug in immer gigantischer werdende Städte und die zunehmende Verarmung der Landbevölkerung, das sind Prozesse, wie man sie aus Schwellenländern kennt, in Südamerika oder Asien. Das kann doch nicht die Zukunft sein, die wir uns für Deutschland wünschen. Doch um dies zu verhindern, müsste man mit mutigen Ideen, wirtschaftlichen Anreizen für Unternehmen, einem völlig neuen Mobilitätskonzept (und, oh Gott, bitte hört auf mit "Anrufsammeltaxen" oder solchem antiquierten Unfug) und ebenso viel Geld wie Entschlossenheit endlich etwas tun.
Setzt euch doch zum Ziel, dass die Menschen es hier nicht bloß aushalten, sondern dass sie sich wirklich wohlfühlen. Dass sie sich umsorgt fühlen. Dass ihre Bedürfnisse gesehen werden. Dass sie geschätzte Kunden sind, die aus guten Angeboten wählen können, statt Bittsteller, die für das einzig vorhandene (schlechte) Angebot auch noch dankbar sein sollen. Dass Pläne auf die Lebensrealität von 2022 ausgerichtet werden, nicht auf die von 1980. Dass sie unabhängig leben können – von Autos und der Hilfe anderer Menschen. Nur dann wird man gern auf dem Land wohnen – wenn man alternativ auch rundumversorgt und komfortabel in der Stadt wohnen könnte. Also: Handelt!