Untersuchung in Hessen: Notruf 110 – viele Anrufer kommen gar nicht durch
In der Nacht des rassistischen Anschlags von Hanau wählte eines der späteren Opfer mehrmals den Notruf 110 – vergeblich. Inzwischen sei das System auch in Südosthessen überarbeitet, erklärt das Innenministerium.
Rund jeder zehnte Anruf bei der hessischen Polizei unter der Nummer 110 hat nach Angaben des Innenministeriums im vergangenen Jahr nicht angenommen werden können – meist, weil der Anrufer zuvor auflegt. Das geht aus der Antwort des Ministeriums auf eine Anfrage der FDP-Landtagsfraktion hervor. Insgesamt seien vergangenes Jahr 709.645 Notrufe von den Leitstellen angenommen worden, die durchschnittliche Wartezeit habe rund 10 Sekunden betragen. Eingegangen seien 788.261 Anrufe – knapp 79.000 wurden nicht angenommen. Neben dem Abbruch des Anrufs kämen hierfür als mögliche Gründe auch Fehlanrufe sowie Störungen im Mobil- und Festnetz in Betracht.
Aufgrund der Anfrage wurde nur die Situation in Hessen näher beleuchtet. Ob es Defizite beim Notruf in anderen Bundesländern gibt, geht aus den Informationen nicht hervor.
Hintergrund der Anfrage sind Notruf-Engpässe am Tatabend des rassistischen Anschlags in Hanau im Februar 2020. Das spätere Anschlagsopfer Vili Viorel Păun hatte an jenem Abend den Attentäter nach den ersten Schüssen in der Innenstadt mit seinem Auto verfolgt und dabei mehrfach vergeblich den Hanauer Notruf 110 gewählt. Kurz darauf war er von dem Attentäter in seinem Auto erschossen worden.
Notruf-Engpass bei Attentat von Hanau war Anlass für Vorermittlungen
Wegen des Engpasses hatte die Staatsanwaltschaft Vorermittlungen geführt. Ein Ermittlungsverfahren gegen Polizisten wurde nicht eingeleitet. Zwischen dem Tod des 22-Jährigen und dem Engpass sei kein Zusammenhang nachweisbar, erklärte die Behörde im Juli.STERN PAID 39_21 Neustart Deutschland Hass im Netz
Inzwischen gehen auch im Bereich des zuständigen Polizeipräsidiums Südosthessen Notrufe zentral bei der dortigen Leitstelle ein, erklärte das Ministerium. Die Umstellung sei nach Inbetriebnahme der Leitstelle am neuen Standort des Präsidiums in Offenbach im August 2021 erfolgt. Von dort gebe es einen Notruf-Überlauf zum Polizeipräsidium Frankfurt.
Zum Zeitpunkt der Tat war das Präsidium das letzte in Hessen, das noch nicht umgestellt war. Das Ministerium gibt hierfür technische Gründe an, auf die das Land keinen Einfluss habe. Eine Weiterleitung von Anrufen, die auf den dezentralen Notrufabfragestellen nicht angenommen werden konnten, gab es seit Februar 2021. In der Tatnacht hätten dennoch die ersten Notrufe die Polizeistation Hanau und das Präsidium erreicht.
Die meisten Anrufe gingen 2020 bei der Leitstelle im Polizeipräsidium Frankfurt ein, danach in den Präsidien West- und Südhessen. Da die Zentralisierung im Präsidium Südosthessen erst im Jahr 2021 erfolgte, ist die Statistik für diesen Bereich nicht vollständig.
Notruf 110: "In einer Notlage ist eine Minute eine Ewigkeit"
Alle Anrufe auf der 110 würden nach etwa sieben Sekunden automatisiert angenommen und der Anrufer hört – wenn der Disponent den Anruf gerade nicht entgegen nehmen kann – zunächst die Bandansage "Hier ist der Notruf der Polizei – Wir sind gleich für Sie da – Bitte bleiben Sie dran!", teilte das Innenministerium mit. Nach einer Wartezeit von einer Minute wird der Anruf zusätzlich bei einer Partner-Leitstelle angezeigt. Dies kritisiert die FDP als zu lang. "In einer Notlage ist eine Minute eine Ewigkeit", erklärte der Abgeordnete Stefan Müller.
Sehen Sie ein Video aus unserem Archiv: Am 19. Februar 2020 erschoss ein Mann in Hanau neun Menschen aus "zutiefst rassistischer Gesinnung". Die Schwester eines Opfers erzählte ein Jahr danach, dass für sie die vollständige Aufarbeitung noch ausstehe.