Syrien: Je länger der Krieg, umso gravierender der Brain-Drain
Von den ursprünglich fast 23 Millionen Einwohnern der Arabischen Republik Syrien haben seit Beginn des Krieges in ihrem Land elf Millionen ihren ursprünglichen Wohnort verlassen. Mehr als fünf Millionen davon sind ins Ausland geflohen, ein Großteil in die Türkei, mehrere hunderttausend nach Europa. Auch aus dem Irak bewegt sich seit dem Vormarsch der Terrormiliz "Islamischer Staat" eine ungebrochen hohe Anzahl an Menschen in sichere Nachbarstaaten oder in Richtung Europa.
Infolge der russischen Unterstützung für die Regierung in Damaskus ist es seit etwa einem Jahr gelungen, terroristischen Gruppen die Kontrolle über eine Reihe größerer Städte zu entreißen. So weit es die Situation vor Ort wieder zulässt, versuchen die politischen Verantwortlichen und die Armee, in den befreiten Gebieten eine Rückkehr zur Normalität in die Wege zu leiten.
Dies hat teilweise bereits dazu geführt, dass Menschen, die zuvor vor den Kampfhandlungen geflohen waren, wieder an ihre früheren Wohnorte zurückgekehrt sind. Ein Großteil der Geflüchteten befindet sich jedoch weiterhin entweder in den sicheren Territorien Syriens oder aber nach wie vor im Ausland – und die offene Frage lautet, wie viele davon überhaupt noch jemals in ihr Heimatland zurückkehren werden.
Eine Reihe von Faktoren nährt ernste Befürchtungen, dass auch ein dauerhaftes Ende des Krieges in Syrien dem Land nicht nur die menschlichen und finanziellen Verluste hinterlassen wird, die Jahre exzessiver Gewalt mit sich gebracht haben. Vor allem könnte Syrien ein dauerhaftes Problem in Form eines Brain-Drain erben, der daraus resultiert, dass ein erheblicher Teil der Flüchtlinge auf Dauer in jenen Ländern bleiben wird, in denen sie Zuflucht gefunden haben.
Diese Unsicherheitsfaktoren setzen sich zum einen aus solchen zusammen, die hausgemacht sind und ihre Wurzel im Bürgerkriegsgeschehen und der syrischen Innenpolitik haben. Darüber hinaus gibt es aber auch solche, die mit der Altersstruktur und den Qualifikationen der Flüchtlinge selbst zu tun haben – und dem Kalkül der Regierungen ihrer Zufluchtsländer.
In Syrien selbst wirken auch in den mittlerweile von den Terroristen befreiten Gebieten die Kriegswirren nach. Das Ausmaß der Zerstörung ist so groß, dass ein erheblicher Teil der früheren Wohnungen und Häuser der Geflohenen nicht mehr beziehbar ist.
Die syrische Regierung hat nach jeder Rückeroberung zuvor von Rebellen gehaltener Territorien verlauten lassen, dass alle Bürger, die zuvor aus diesen Gebieten geflohen sind, eingeladen sind, zurückzukehren.
Das Hauptziel der syrischen Regierung ist es, alle heimatlos gewordenen Syrer wieder in ihre Häuser zurückzuführen", erklärte der syrische Minister für nationale Versöhnung, Ali Haidar, im Vormonat.
Nicht wenige Flüchtlingsfamilien, die im Vertrauen darauf bereits eine Vorhut in die betreffenden Gegenden geschickt hatten, stießen dabei jedoch auf eine unangenehme Überraschung.
Viele Familien hatten mit zerstörten Häusern gerechnet, immer wieder stellt sich jedoch auch heraus, dass Häuser und Wohnungen, die noch intakt sind, mittlerweile von anderen Familien bewohnt werden. Im Regelfall wurden diese als leerstehende Räumlichkeiten requiriert, um Binnenflüchtlinge unterzubringen. Die Regierung hat in vielen dieser Fälle einen vorerst sechsmonatigen Räumungsaufschub gewährt.
Unter potenziellen Rückkehrern machen seither Verschwörungstheorien die Runde. So heißt es beispielsweise, die Regierung in Damaskus würde die Opposition durch eine "Umentwicklung" der Städte bestrafen wollen. Durch die Bestückung leerstehender Häuser in früheren Oppositionshochburgen mit loyalen Bewohnern und die Errichtung neuer Siedlungen, die ebenfalls an vermeintlich regierungsnahe Bevölkerungsgruppen gehen sollen, sollen die Mehrheitsverhältnisse dort dauerhaft gewendet werden. Vor allem im Korridor von Damaskus bis zur Mittelmeerküste würde eine solche Strategie gefahren.
Außerdem wird vor allem jungen Männern davon abgeraten, nach Syrien zurückzukehren. Diese hätten mit einer umgehenden Einziehung zum Militärdienst zu rechnen, berichten oppositionsnahe Quellen. Gerüchte dieser Art, die sich im Regelfall nicht einmal ansatzweise beweisen lassen, tragen ihren Teil dazu bei, ins Ausland geflüchtete Syrer von einer möglichen Rückkehr abzuschrecken.
Dabei ist mit einer nennenswerten Rückkehrbewegung ohnehin kaum zu rechnen. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass es tendenziell eher die jüngeren, besser ausgebildeten und flexibleren Bevölkerungsteile sind, die es überhaupt nach Europa geschafft haben. Tatsächlich zeigen Daten des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF), dass Schutzsuchende aus Syrien und dem Iran wesentlich bessere bildungstechnische Voraussetzungen mitbringen als der Durchschnitt aller Einwanderungswilliger, die als Flüchtlinge oder Asylbewerber in Deutschland Aufnahmen suchen.
Nicht weniger als 27 Prozent der Syrer in Deutschland haben demnach eine Hochschule besucht, fast ebenso viele zumindest ein Gymnasium. Rund ein Viertel der syrischen Flüchtlinge arbeitete zuletzt in technischen, medizinischen, Ingenieurs-, Lehr- und Verwaltungsberufen, fast die Hälfte verfügt über Englischkenntnisse.
Die Qualifikationen sind dabei nicht immer 1:1 den gleichnamigen deutschen Abschlüssen gleichzusetzen, und ein erheblicher Teil jener syrischen Flüchtlinge, die den Eintritt in den deutschen Arbeitsmarkt schaffen, arbeitet weit unter seinem formalen Qualifikationslevel in ungelernten und Hilfstätigkeiten.
Dennoch scheinen vor allem die Altersstruktur und das Ausbildungsniveau unter syrischen Flüchtlingen Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel zu ihrem politischen High-Risk-Manoeuvre im September 2015 motiviert zu haben, der groß angelegten Fluchtbewegung aus den Bürgerkriegsgebieten des Nahen Ostens und darüber hinaus die Grenzen zu öffnen.
Die Einstellungspraxis der zu Beginn äußerst euphorischen Großkonzerne und die Stimmung in weiten Teilen der Bevölkerung lassen den Schluss zu, dass sich die ambitionierten Erwartungen Merkels hinsichtlich des bevorstehenden Wirtschaftswunders durch groß angelegten Flüchtlingszuzug nicht im gewünschten Maße erfüllt haben.
Für das nachhaltige Ausbluten Syriens infolge der dauerhaften Abwanderung seiner High Potentials könnte die von Merkel forcierte Politik der offenen Arme jedoch ausreichen. Insgesamt 15.000 Ärzte sollen dem britischen "Telegraph" zufolge seit Beginn der Kampfhandlungen Syrien verlassen haben und damit die Hälfte der zertifizierten Mediziner des Landes. Dies waren Zahlen aus dem Jahr 2014, seither dürfte der Anteil noch gestiegen sein. Je länger der Krieg andauert und umso mehr die Flüchtlinge in ihren Zufluchtsländern sesshaft werden, umso geringer wird die Wahrscheinlichkeit, dass sie eines Tages wieder ihren Lebensmittelpunkt nach Syrien verlegen.
Bereits im September des Vorjahres fühlte sich der Analyst der britischen Tageszeitung, Colin Freeman, an die Situation im Irak erinnert, der nach der Invasion 2003 vor Ort als Reporter tätig war und Rückkehrer oder Exil-Iraker begleitet hat, die mit der Ambition zurückgekommen waren, dem Land einen Neuanfang zu ermöglichen.
Die meisten seien wieder gegangen, weil das Land zu harte und gefährliche Bedingungen bereitgehalten hätte, um Menschen zu halten, die auch anderswo über Optionen verfügen. Es gab keine Mittelklasse und es war auch keine im Entstehen, die durch eine breite Kraftanstrengung die Strukturen des Landes verändern hätten können.
Stattdessen gab es eine Regierung aus Leuten, deren einzige Qualifikation darin bestand, dieser oder jener Person Cousin oder Sohn zu sein, oder die über die erforderlichen Waffen verfügten, um sich einen Posten zu erkämpfen. Auf diese Weise blieb die Regierung des Irak ebenso korrupt und inkompetent, wie sie dies bereits zu Saddams Zeiten war, und am Ende hat sie nihilistische Bestrebungen wie den "Islamischen Staat" hervorgebracht.
Es gäbe keinen Anlass, für Syrien eine optimistischere Prognose zu erstellen, schreibt Freeman.
Aber selbst wenn es Präsident Bashar al-Assad gelingen sollte, die Terroristen endgültig zu besiegen und die Chance zu nutzen, weitreichende Reformen notfalls gegen sein eigenes Umfeld durchzusetzen, würde das nichts am ehernen Gesetz ändern, dass ein ins Ausland abgewanderter Syrer, sobald er selbst dort eine Chance ergreifen konnte oder seine Kinder die Schule besuchen, kaum noch den Ehrgeiz entwickeln dürfte, zurückzukehren.